Der Deutschschweizer weiss nur das über das Tessin, was er als Tourist konsumiert. Dabei gibt es einen Aspekt in der Geschichte der italienischen Schweiz, der internationale Ausstrahlung hat. Der Altdorfer Omar Gisler gibt in seinem Buch „Terra d`Artisti Genial Gebaut“ Einblicke in die schöpferische Kraft von Baumeistern aus dem Tessin, die europäische Kunstgeschichte schrieben.
Omar Gisler, wie kommt ein Urner dazu, ein Buch über Tessiner Baumeister aus sechs Jahrhunderten zu schreiben?
Das ist eine lange Geschichte… Kurz zusammengefasst: Ich habe in Basel italienische Literatur und Geschichte studiert, anschliessend lange im Tessin gelebt und dort als Journalist und in der Tourismusbranche gearbeitet. Dazu kommt meine Leidenschaft fürs Reisen. Dabei stiess ich immer wieder auf Spuren der Tessiner Emigration – in Mailand, Rom, Venedig, Neapel, aber auch in Istanbul, Wien, Prag, Bergen-op-Zoom oder Kromeriz. Schritt für Schritt, im wahrsten Sinne des Wortes, eröffnete sich ein faszinierendes Universum, das noch kaum erforscht und auf der Alpennordseite weitestgehend unbekannt ist: die Terra d’artisti. So reifte nach und nach die Idee, dass dies der Stoff für ein Buch ist, das ein breites Publikum interessieren könnte.
Sie beschreiben in Ihrem Buch die Lebenswege und Werke von 20 Tessinern, die Kunstgeschichte schrieben: Welche Biografie hat Sie am meisten beeindruckt? Und warum?
Insgesamt sind über 4000 Tessiner aktenkundig, die im Laufe der Jahrhunderte im Ausland als Architekten, Ingenieure, Baumeister, Stuckateure oder Bildhauer tätig waren. Hinter jedem Namen verbirgt sich ein Schicksal, das uns oft unbekannt ist. Der Not gehorchend, suchten viele ihr Glück in weit entfernten, teils unwirtlichen Gegenden. Domenico Trezzini war einer von ihnen. Er folgte 1703 dem Lockruf von Zar Peter dem Grossen, um im sumpfigen Niemandsland an der Newa-Mündung eine neue Hauptstadt für das Zarenreich aus dem Boden zu stampfen. Kaum ein Architekt prägte St. Petersburg in der Gründerphase mehr als Trezzini, dem insgesamt 65 Bauwerke zugeschrieben werden, unter anderem die Festung, die Kathedrale, das Newski-Kloster und der Sommerpalast des Zaren. Wie er sich an das Umfeld anpasste, russisch lernte und sich für «seine» Arbeiter, oftmals Kriegsgefangene, einsetzte – das ist schon beeindruckend.
Ihr Buch ist ja auch ein Beweis, dass sich Talent immer durchsetzt. Trotzdem wie kam ein Antonio Solari 1490 überhaupt nach Russland an den Hof des Zaren und baute die Mauer und Türme des Kremls?
Iwan der Grosse hat in seiner 43 Jahre währenden Herrschaft das Einflussgebiet des Grossfürstentums Moskau vervierfacht und sich zum ersten „Zar aller Russen“ erhoben. Die Infrastruktur in seinem Reich hinkte der Entwicklung jedoch hinterher. Die Stadtmauern von Moskau bestanden aus einem Flickwerk aus Lehm und Eichenholzpalisaden, und beim Bau der Uspenski-Kathedrale wurde derart gepfuscht, dass das Gebäude 1474 in sich zusammenstürzte. Zwei Jahre zuvor hatte Iwan der Grosse Sofia Palaiologos geheiratet, die Nichte des letzten oströmischen Kaisers. Diese war in Italien aufgewachsen und mit der dortigen Baukunst vertraut. Also schickte Iwan Emissäre nach Italien, mit dem Ziel, Baumeister und Fachkräfte anzuheuern. Antonio Solari war am Bau des Mailänder Doms tätig, als die Gesandten des Zaren in aufsuchten. Über die Beweggründe, dem Lockruf des Zaren zu folgen, kann man nur spekulieren. Vielleicht war es Abenteuerlust oder einfach die Aussicht auf Ehre, Ruhm und Geld, die Solari bewogen, das Amt des „Architectus Generalis Moscovie“ anzutreten. Fakt ist, dass Solari in Moskau den Kreml nach dem Vorbild des Castello Sforzesco in Mailand befestigte. Eine Inschrift am Spasskij-Turm erinnert bis heute daran, wer für den Bau der Türme und Mauern plante: Pietro Antonio Solari aus Carona.
Baumeister sind Männer, die was bewegen können und Mut zur Phantasie haben, wie wir heute bei Mario Botta sehen. Doch bei all Ihren beschriebenen Baumeister fragt man sich schon, ist der Einfluss der Italiener (Michelangelo) auf diese Tessiner nicht offensichtlich, da es ja keine Deutschschweizer geschafft haben, sogar in Aegypten tätig zu sein?
Die Baumeister aus dem Gebiet der oberitalienischen Seen wurden bereits 643 im Kodex des Langobardenkönigs Rothari erwähnt. Als freie Leute durften sie von einer Baustelle zur nächsten ziehen. Ihr Know-how gaben sie während Generationen innerhalb ihrer Familien weiter. So entstanden eigentliche Clans. Anfangs waren diese vorwiegend in Italien tätig, was nicht weiter erstaunlich ist, als dort im Mittelalter die grössten Investitionen in repräsentative Bauten getätigt wurden, sei es vom Klerus, Adel oder dem aufstrebenden Bürgertum. Es ist denn auch kein Zufall, dass der Niedergang der sogenannten Magistri Comacini sich im 19. Jahrhundert akzentuierte, als überall in Europa Hochschulen und Universitäten entstanden, an denen Architektur- und Ingenieurswissenschaften vermittelt wurde. Anstelle von familiären Banden traten zunehmend akademische Seilschaften. Dass im Tessin Ende des 20. Jahrhunderts mit der Accademia dell’architettura eine Ausbildungsstätte für Architekten entstand, ist eine schöne Pointe der Geschichte. Hier wird getreu dem Motto „ohne Herkunft keine Zukunft“ das jahrhundertealte Erbe der Magistri Comacini in die Zukunft überführt.
Bauen ist einer Seite der Tätigkeit, die andere ist die Kommunikation mit den örtlichen Arbeitern und Behörden. Gab es da nie Probleme?
Es ist in der Tat erstaunlich, wie die aus einfachen Verhältnissen stammenden Baumeister Könige und Kaiser, Zaren und Sultane, Päpste und Kardinäle für ihre Pläne und Projekte zu begeistern mussten. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Know-how-Transfer innerhalb der Familien. So sind beispielsweise Briefe überliefert, in denen die Ehemänner den im Tessin gebliebenen Frauen genaue Anweisungen gaben, wie sie ihre Kinder zu erziehen hätten. In der Fremde waren die Tessiner sehr anpassungsfähig. Domenico Trezzini, der die Gründung von St. Petersburg massgeblich prägte, kommunizierte auf Russisch. Antonio Adamini schlug sich dort 200 Jahre später am Hof mit Französisch durch. Im Habsburgerreich wiederum war die Kommunikation relativ einfach, avancierte doch Italienisch im Barock-Zeitalter zur Universalsprache, die das heterogene Reich zusammenhielt. Allerdings gab es oftmals Zwiste, die fremdenfeindlichen Charakter hatten. Die „wälschen“ Baumeister wurden von den Einheimischen oft als Konkurrenz betrachtet und entsprechend bekämpft, gerade von den Zünften oder den Dombauhütten.
Die Barockkirche in Solothurn und der Petersdom kennen alle, die anderen Werke der Baumeister sind weit weg oder vergessen. Wollten Sie mit Ihrem Buch auch die Tessiner Behörden auffordern mehr für die Erhaltung dieses Schweizer Erbes zu tun?
Das Erbe der Magistri Comacini im Tessin ist überschaubar. Denn ihre grössten Werke haben sie im Ausland errichtet. Gerade Gemeinden wie Bissone, Melide oder Morcote halten die Erinnerung an ihre berühmtesten Söhne in Ehren, sei es durch Denkmäler, Gedenktafeln oder Themenwege. Der Kanton Tessin wiederum hat das Werk „Terra d’artisti“ sehr grosszügig unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin. Ziel des Buches ist es, die Pläne, Projekte und Bauten der Magistri Comacini aus dem Dunkeln der Geschichte herauszuholen und den Lebensweg dieser Baumeister nachzuzeichnen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Denn es handelt sich um den wohl grössten Beitrag der Schweiz zur europäischen Kunstgeschichte. Es wäre schön, wenn dies auch auf der Alpennordseite bekannter würde.
Das Buch “ Terra d`Artisti Genial Gebaut “ erschien im As Verlag
Weitere Informationen zum Buch hier
Bilder
1 Moskau, Spasskij-Turm, erbaut von Pietro Antonio Solari
2 Omar Gisler
3 Bucovice, Arkadenhof im Schloss mit Bacchus-Brunnen, erbaut von Pietro Maino Maderno
4 Wien, Leopoldinischer Trakt der Hofburg, erbaut von Filiberto Lucchese
5 Bissone, Geburtshaus von Francesco Borromini
6 Neapel, Kirche Sant’Anna dei Lombardi, Grabmal von Domenico Fontana
7 Petersdom, Hauptfassade, erbaut von Carlo Maderno